Ersatzausfahrt
„Dies ist eine alte Landschaft. Die gibt es gar nicht mehr; hier ist die Zeit stehengeblieben. Wenn Landschaft Musik macht: dies ist ein deutsches Streichquartett. Wie die hohen Bäume rauschen, ein tiefer Klang, so ernst sehen die Wege aus ... Die Steindachlinie des alten Hauses ist so streng – hier müßten altpreußische Reiter einreiten, etwa aus der Zeit Louis Ferdinands.“
Soweit Kurt Tucholsky im Sommer 1927, in seinem Bericht, „Das Wirtshaus im Spessart“, auf einer Wanderung durch Franken mit seinen Freunden Jakopp und Karlchen, als sie in der Lichtenau im Hafenlohrtal nächtigten, und an dieser Beschreibung hat sich auch nach über 90 Jahren wenig geändert. Noch immer steht das alte Haus einsam im Wiesental, umgeben von dunklen Wäldern und strahlt Würde und Ernst aus.
Hier eine Rast auf einer Ausfahrt mit unseren noblen Fahrzeugen einzulegen war schon seit längerem eine Idee, die Anfang April letzten Jahres, bei der Frühjahrsausfahrt unserer Sektion, verwirklicht wurde.
Allerdings hatte ich das Pech, dass kurze Zeit nach dieser Frühjahrstour mein Computer einen Breakdown hatte, bei dem zwar alle wichtigen Daten gerettet wurden, aber zahlreiches anderes, so auch die Fotos der Frühjahrsausfahrt vermeintlich verloren gingen und da es zu dieser Zeit Wichtigeres zu tun gab, als Ausfahrtsberichte zu schreiben, blieb diese Frühlingstour, zumindest im JAGMAG unkommentiert.
Ein Jahr später musste ich, durch die aktuellen Umstände, die von mir geplante Frühjahrsausfahrt 2020 zum Deutschen Automobilmuseum auf Schloss Langenburg im Jagsttal absagen. Durch die Maßgabe zu Hause zu bleiben ergab sich die Zeit einmal die digitalen Fotos auf verschiedenen Speichermedien zu sichten und zu ordnen und, oh Wunder, es fanden sich auf einer externen Festplatte die verlorengeglaubten Aufnahmen der Frühjahrsausfahrt 2019 wieder. Was lag da näher, als nun als kleinen Ausgleich für die ausgefallene Frühjahrsausfahrt 2020 einen Bericht über die durchgeführte aber unkommentierte Frühjahrsausfahrt 2019 heute nachzuschieben. Gesagt, getan, hier ist er:
Am bereits mehrfach genutzten Start- und Treffpunkt, bei McDonalds im unterfränkischen Alzenau, fand sich an einem zwar kühlen aber zunächst sonnigen April-Samstagmorgen 2019 eine erkleckliche Anzahl schöner Fahrzeuge aus dem Hause Jaguar ein, darunter allein zwei XK 140 in offener und geschlossener Ausführung, neben verschiedenen Jaguar E und vielem mehr.
Bald ging es, nach kurzer Begrüßung, Ausgabe des Roadbooks und den üblichen Hinweisen auf die Strecke, die uns zunächst durch den Vorspessart und das sogenannte Freigericht hinauf nach Geiselbach führte und weiter über Schöllkrippen nach Heigenbrücken. Das Wetter gab sich entsprechend des Monats aprilhaft, was neben sonnigen Abschnitten auch Schneegestöber bedeutete.
Kurz vor Mittag war dann die bereits oben erwähnte Lichtenau - das „Gasthaus im Hochspessart“ - erreicht. Hier fanden unsere Fahrzeuge im Innenhof und die Teilnehmer in der großen Wirtsstube Platz. Mit ortstypischen Spezialitäten wie Wildschweinschinken und Rehmedaillons vom Wild aus den angrenzenden Wäldern oder Forelle aus der am Haus vorbeifließenden Hafenlohr, wurde die Mittagsrast genussvoll verbracht, bevor dann, nach dem abschließenden Kaffee, wieder die Fahrzeuge bestiegen und gestartet wurden.
Talabwärts ging es zunächst am Forsthaus Diana durch das Wildgatter hinein in den Löwenstein`schen Wildpark und weiter, der stillen Hafenlohr folgend, Richtung Main. Dass wir hier eigentlich auf dem Grund eines gigantischen Stausees fuhren, der wenn die Pläne aus den frühen 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts realisiert worden wären, das gesamte Hafenlohrtal unter Wasser gesetzt hätte, kann man sich heute kaum vorstellen. Dieses Vorhaben, das durch eine der ersten Bürgerinitiativen Deutschlands verhindert wurde, ist erst 2008 von der bayrischen Staatsregierung endgültig aufgegeben worden.
Am Torhaus Breitfurt verließen wir wieder den Wildpark der Fürsten zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg, um einige Kilometer weiter, dann im Ort Hafenlohr, das Maintal zu erreichen. Dem Main aufwärts folgend ging es über Lohr und Gemünden ins beschauliche Tal der fränkischen Saale, immer mal von Pausen auf Parkplätzen entlang der gut ausgebauten Landstraßen unterbrochen, um die jeweilige Landschaft vor Ort zu betrachten, sich ein wenig zu bewegen, mit den Mitfahrenden zu fachsimpeln und die teilnehmenden Fahrzeuge zu begutachten.
In Gräfendorf verließen wir dann in nördlicher Richtung das Tal der Fränkischen Saale und steil aufwärts ging es durch den Wald über eine schmale und einsame Landstraße, bis zum Parkplatz Rhönblick, wo sich die Teilnehmer sammelten, denn hier gab es Erläuterungen zum längsten bayrischen Denkmal, der Autobahnruine Strecke 46. Zwischen Bad Brückenau und Gemünden am Main finden sich auch heute noch verschiedenste Autobahnbrücken, Unterführungen und viele weitere Bauwerke, die scheinbar funktions- und zusammenhanglos einsam in den Wäldern stehen. Es sind die Relikte einer seit 1937 gebauten Reichsautobahn, der sogenannten Strecke 46, die nach dem 2. Weltkrieg zugunsten der heute weiter östlich verlaufenden A 7 aufgegeben wurde und deren Bauwerke heute als Zeugnisse frühen Autobahnbaus unter Denkmalschutz stehen. Die Trasse dieser nie vollendeten Autobahn ist auch heute noch anhand der unterschiedlichen Färbung der Bäume gut in der Satelliteneinstellung von Google Earth zu verfolgen.
Nachdem wir die Autobahntrasse unter einer der Brücken - dem Bauwerk 91 der offiziellen Denkmalzählung - unterquert hatten, setzten wir die Tour steil abwärts ins Sinntal fort und eine halbe Stunde später erreichten wir bei Schlüchtern Burg Brandenstein. Diese Höhenburg, Ziel- und Endpunkt unserer Ausfahrt, ist auch heute noch im Besitz der Familie von Brandenstein-Zeppelin, zu deren Vorfahren der legendäre Luftschiffpionier, Graf Zeppelin, gehört, da seine Tochter Anfang des 20. Jhd. einen Brandensteiner heiratete. Hier wurden wir vom Burgvogt, dem Verwalter des Anwesens, herzlich empfangen und sogleich mit Blechkuchen und heißem Kaffee versorgt, da in diesen Tagen „der Schlehenwinter“ sein frostiges Gesicht zeigte, also jetzt die Zeit sei, wo die Schlehen - der Schwarzdorn - blüht, zeitgleich aber, wie an diesem Tag mehrfach erlebt, es auch noch schneien kann.
Nachdem wir durch Kaffee und Kuchen gestärkt und wieder einigermaßen aufgewärmt waren, gab uns der Burgvogt eine Führung durch die Burganlage, inklusive zahlreicher Hinweise auf die vielfältigen Veranstaltungen auf Burg Brandenstein, vom Apfelblütenfest über Schnapsbrennen, Whisky herstellen bis Bierbrauen.
Als krönenden Abschluss gab es dann noch für alle Interessierten einen kulturhistorischen Höhepunkt, nämlich die Führung durch die auf Burg Brandenstein befindliche Sieboldsammlung. Philipp Franz von Siebold (1796-1866), ein Vorfahre der Familie von Brandenstein – Zeppelin, war einer der frühesten europäischen Japanforscher und Begründer der systematischen-wissenschaftlichen Erforschung des zu dieser Zeit vollkommen abgeschotteten Inselreichs. Er ist bis heute, speziell in Japan, hoch verehrt und seine Sammlung Ziel auch vieler Besucher aus Fernost.
So endete diese Frühjahrsausfahrt und alle waren zufrieden, denn für jeden war an diesem Tag etwas dabei und wenn es nur die Gemeinschaft mit den Jaguarfreunden war. „Es hätte allerdings schon a bisserl wärmer sein können. Auf den Schlehenwinter, wie auf die Erläuterung um was es da geht, hätte ich gerne für ein paar mehr Sonnenstrahlen und Wärme verzichtet. Aber sonst war´s schön“, meinte dann auch abschließend eine Mitfahrerin.
Albrecht Reinhard / Sektion Frankfurt/Rhein-Main